VdA (Hrsg.): Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus

Titel
Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart


Herausgeber
VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare
Reihe
Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 10
Erschienen
Essen 2007: Klartext Verlag
Anzahl Seiten
539 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marcel Müller, Boswil

Nach dem Frankfurter Historikertag von 1998 reflektierte sieben Jahre später die Archivarenzunft anlässlich des 75. Deutschen Archivtags über die jüngere Geschichte der eigenen Profession, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus. Die den Sammelband beschliessende Transkription einer Podiums diskussion jedenfalls zeigt keine Kontroversen: Es herrschte Einigkeit darüber, dass die Archive nach 1933 umgehend zu wichtigen Herrschaftsinstrumenten des NS-Staates wurden. Demgegenüber verwies ein Diskutant auf die vergleichsweise geringe Zahl von lediglich ca. 160 Archivaren des höheren Dienstes, die 1937 im Dritten Reich eine Anstellung hatten. Die in sechs Sektionen gegliederten Beiträge des Bandes sind denn auch stark personen- und weit weniger strukturbezogen. Die gelungene Einführung von Astrid M. Eckert über Archive und Archivare im National sozialismus hätte man sich daher gerne noch ausführlicher gewünscht, zumal die folgenden rund 31 Beiträge insgesamt mehr Handbuch- als Überblickscharakter haben.

In der ersten Sektion «Aspekte nationalsozialistischer Archivpolitik» ist besonders der Beitrag von Norbert Reimann zum letztlich gescheiterten Versuch einer Archivgesetzgebung bemerkenswert, gerade auch im Anschluss an Robert Kretzschmars Ausführungen zur Überlieferungsbildung im Dritten Reich. Analog zu vielen anderen Massnahmen zielte man in der NS-Zeit auch bei der Überlieferungsbildung auf Totalität, wobei dieses Konzept im Einklang stand mit dem Ziel einer Vereinheitlichung und Zentralisierung des Archivwesens. Verschiedene Entwürfe zu einem sog. Archivschutzgesetz sahen u.a. auch eine praktisch vollständige Staatsaufsicht über das gesamte private Archivgut vor. Paradoxerweise scheiterte der seitens der preussischen Archivverwaltung schon länger geplante, und nach 1933 intensiv vorangetriebene Entwurf gerade an der wiederholten Weigerung Hitlers, ein solches Gesetz zu unterzeichnen. Grund für dieses doch überraschende Verhalten war nach Reimann der Einfluss von Heinrich Glasmeier, dem Direktor der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive und Vertrauten Hitlers.

Die Ambivalenz nationalsozialistischer Massnahmen für das Archivwesen zeigt sich gerade in den Sektionen «Staatsarchive» bzw. «Kommunale Archive im Nationalsozialismus». Gemäss Susanne Brockfeld stellte die Machtübernahme der Nationalsozialisten für die Archivare in ihrer Mehrheit keinen Bruch dar, weil sie von wenigen Ausnahmen abgesehen in ihren Grunddispositionen bereits nationalkonservativ und republikskeptisch gesinnt waren. Schliesslich waren gut 80 Prozent, in manchen Archiven sogar sämtliche Archivare des höheren Dienstes, Parteigenossen. Diese registrierten mit Freude, dass die sog. Sippenforschung als Folge der Rassengesetzgebung zu einem sprunghaften Anstieg der Archivbenutzung führte. Bald aber schon bedrohten die Einflussnahme und Konkurrenz anderer Institutionen, allen voran das Reichssippenamt, die Standesinteressen der Zunft. Das Reichssippenamt arbeitete nicht nur an einem eigenen Gesetzesentwurf zum ‘Schrift-Denkmalschutz’, sondern forderte auch, dass die Kirchenbücher ans Sippen amt, und nicht etwa an die staatlichen Archive übergeben werden sollten. Nichtsdestotrotz funktionierte die Arbeitsteilung zwischen den staatliche Archiven und den Machthabern bestens: Letztere erhielten Quellen für die Propaganda und eine nationalsozialistisch verbrämte Geschichtsschreibung, deren Zuträger wiederum genossen den Ruhm, der auf die eigene Institution zurückfiel. Der inflationäre Bedarf an Ariernachweisen wurde indes zunehmend zu einem Problem. Er band mancherorts dermassen viele Ressourcen, dass die üblichen Verzeichnungs- und Erschliessungsarbeiten verlangsamt oder gänzlich verhindert wurden.

Die materielle, territoriale und personelle Ausweitung des nationalsozialistischen Archivwesens wird in den Sektionen «Geraubte, beschlagnahmte und missbrauchte Archive» sowie «Deutsche Archivpolitik im besetzten Ausland» thematisiert. Die Gefährdung einzelner Archive bereits vor Kriegsausbruch schildern Beiträge zum SPD-Parteiarchiv, dessen Bestände vom SPD-Vorstand bereits 1933 teilweise in Sicherheit gebracht wurden, und zum 1938 beschlagnahmten jüdischen Gemeindearchiv von Worms. Ausführlich behandelt werden auch die kirchlichen Archive. Ihnen kam eine eminent wichtige Rolle zu, denn die Rassenpolitik des neuen Staates war zu einem erheblichen Teil auf die Kirchenbücher angewiesen. Da die Pfarrer die Matrikelbücher zeitweise im Auftrag des Staates zu führen hatten, leitete dieser nun ein gewisses Benutzungsrecht ab. Die ablehnende Haltung vieler Kirchenbuchführer gegen die NS-Politik dokumentiert die Kritik der Reichsstelle für Sippenforschung. Diese warf kirchlichen Stellen wiederholt vor, dass Abstammungsnachweise verzögert oder gar verfälscht würden. Mitunter beteiligte sich die Kirche aber auch geradezu befliessen an der Identifizierung und Ausgrenzung der sog. ‘Judenchristen’. Davon zeugt der Beitrag zur Mecklenburgischen Kirchenbuchstelle, die aus der Initiative der evangelischen Kirche hervorgegangen war und nach 1935 als Sippenkanzlei von einem Pastor geführt wurde. Bedenklich ist das Ausmass, in dem Archivare vom Krieg profitierten. So bedeutete der Einsatz im Generalgouvernement für alle beteiligten Archivare gemäss Stefan Lehr eine Verbesserung ihrer bisherigen dienstlichen und finanziellen Stellung. Ebenso brachten die imperialistischen NS-Nord-, West- und Ostforschungsprogramme vielen Lohn und Brot. Profitieren konnten auch die Archivare der staatlichen Wiener Archive, die 1938 den Anschluss an das Deutsche Reich fast einhellig begrüssten. Sie erhielten durch die militärische Besetzung der Nachfolgestaaten der Monarchie wieder Zugriff auf Archivgut, das sie nach 1918 abtreten mussten. Neben anderen Archiven bzw. Beständen aus verschiedenen europäischen Ländern wurde auch das ‘Internationaal Archief voor de Vrouwenbeweging (IAV)’ von den deutschen Besatzern geraubt und ausser Land gebracht. Dessen Odyssee von Amsterdam über Berlin, Schlesien und Moskau bis zur kürzlichen Repatriierung schildert Massimiliano Livi. Die jeweilige Praxis in den besetzten Ländern Frankreich, Belgien oder den Niederlanden wird in einzelnen, personenzentrierten Beiträgen dargestellt. Wie Gerhard Menk und Sierk F. M. Plantinga an der Biografie von Bernhard Vollmer, dem eingesetzten Leiter des niederländischen Archivamtes und späteren Mitbegründer der Zeitschrift «Der Archivar», zeigen, blieben einzelne Exponenten an den Zielen des Berufs orientiert. Vollmers ausgesprochen rücksichtsvolles Auftreten gegenüber den niederländischen Kollegen sei von diesen selbst lange nach Kriegsende anerkannt worden.

Astrid M. Eckerts «Fegefeuer der Entbräunung» eröffnet den letzten Teil des Bandes, der sich der «Kontinuität und Vergangenheitsbewältigung nach 1954» annimmt. Wiederum mit reichlich biografischem Material unterfüttert, zeigt sich die fast ungebrochene personelle Kontinuität im Archivwesen der 1950er Jahre. Nur wenige Archivare kehrten nicht in ihren angestammten Beruf zurück, zumal die meisten es verstanden, ihre Arbeit als unpolitisch und den Eintritt in die NSDAP als Zwang darzustellen. Ansätze einer Selbstreinigung der Zunft gab es kaum.

Eine Auswahlbibliogaphie und ein Personen- und Institutionenindex beschliessen den Band. Sprachliche Umständlichkeiten behindern in einigen Beiträgen den Lesefluss, während die Detailfreude einzelner Autoren den Blick aufs Ganze bisweilen verstellt. Die thematische Breite der Artikel macht diese Mängel allerdings wett. So vereint der Sammelband erstmals Aspekte, die bislang nur über verstreute Publikationen greifbar waren.

Zitierweise:
Marcel Müller: Rezension zu: VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (Hg.): Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart. Red.: Robert Kretzschmar. Essen, Klartext Verlag, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 2, 2008, 200 S. 242-244.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 2, 2008, 200 S. 242-244.

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